Das Adverb „vielleicht“ kommt in den Schriften von Philosophen nur selten vor, da es nicht den klassischen Kriterien der Rationalität wie Kohärenz, innere Konsistenz und Widerspruchsfreiheit entspricht. Doch wenn man die hermeneutische Bedeutung dieses Adverbs ergründen möchte, lassen sich drei Formen eines philosophischen „vielleicht“ unterscheiden: ein „konjekturales“, ein „amphibologisches“ und ein „interpretatives vielleicht“. Tatsächlich wurden diese drei Formen häufig verwendet, um sich gerade dem zu nähern, was die Vernunft übersteigt – sei es das absolute Sein oder Gott.
Die zentrale These des Artikels lautet, dass hinter jedem philosophischen Denken über Gott stets eine absolute Voraussetzung oder eine epistemische Vorentscheidung steht – ein „interpretatives vielleicht“, das entweder in einer „positiven“ oder einer „negativen“ Form angenommen wird. Es bleibt hinter der argumentativen Struktur verborgen, steuert jedoch die Form der Untersuchung und macht sie überhaupt erst möglich.
Nach Nietzsche und mit Heidegger wird dieses „interpretative vielleicht“ noch radikaler (das „gefährliche Vielleicht“), offenbart jedoch in seiner letzten Bedeutung seine wahre Natur: Es entspricht einer Auffassung von Vernunft, die untrennbar mit Freiheit verbunden ist – einer hermeneutischen Vernunft, die als einzige in der Lage ist, das Wahrheitspotential der Religion entweder anzuerkennen oder abzulehnen.
In: Communio. Internationale Katholische Zeitschrift, 3/2023, 309-324.