In Heft 2/2023 dieser Zeitschrift hat Walter Kardinal Kasper «Überlegungen» zu seinem «ersten Disput mit Joseph Ratzinger» vorgelegt. Dabei handelt es sich zunächst um einen autobiografisch gefärbten Rückblick auf eine durchaus leidenschaftlich geführte Kontroverse um Ratzingers Einführung in das Christentum in den Jahren 1969/70 und damit um ein Zeugnis theologischer Zeitgeschichte.1 Aufschlussreich ist die geistesgeschichtliche Rekonstruktion, mit der Kasper sein eigenes Denken dem von Ratzinger zuordnet und sich zugleich davon absetzt: für den in Tübingen ausgebildeten Theologen ist die Wende von den Ideen zur Wirklichkeit bei Aristoteles und ihre Weiterführung bei Thomas von Aquin Maßstab seiner eigenen Auseinandersetzung mit der Moderne geblieben. Daher betont er immer wieder die Relevanz der Praxis, der Geschichte und der menschlichen Existenz für den christlichen Glauben. Ratzinger sieht er demgegenüber mehr in der platonisch-augustinischen Tradition verwurzelt. Dies führe im theologischen Ansatz zu einer Priorisierung der «Liebe» Gottes vor der «Freiheit» des Menschen, damit zu einer größeren Distanz zum neuzeitlichen Denken und letztlich zu einem «gebrochenen Verhältnis zur Moderne», wie der Titel von Walter Kaspers Aufsatz lautet.
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